Scheidung und Wiederheirat (Teil 5): Weitere legitime Gründe?

In diesem Beitrag stelle ich die Position vor, die weitere legitime Gründe für eine Wiederheirat sieht.

Nach den vorangehenden Beiträgen zum Thema Scheidung und Wiederheirat (Überblick, Position 1, Position 2, Position 3) schließe ich mit einem Beitrag zur vierten und letzten Position. Neben Ehebruch (Mt 5,32; 19,9) und Verlassen (1Kor 7,15) werden hier weitere legitime Gründe für Scheidung und Wiederheirat in Betracht gezogen.

David Instone-Brewer: Divorce and Remarriage in the Bible

2002 brachte David Instone-Brewer mit Divorce and Remarriage in the Bible eine Monografie heraus, die in ihrer Fülle an Hintergrundinformationen unübertroffen ist. Darin enthalten ist eine ausführliche Exegese der relevanten neutestamentlichen Texte.

Instone-Brewers Argument für eine Vielzahl von möglichen Gründen für Scheidung und Wiederheirat basiert im Wesentlichen auf seiner Auslegung von 2Mo 21,10f. In vielfacher Hinsicht ein schwieriges Kapitel, insbesondere wenn es um Sklaverei und Vielehe geht. Wichtig ist zu beachten, dass Sklaverei und Vielehe hier nicht legitimiert, sondern reguliert werden. In V.10-11 geht es um jüdische Männer, die eine hebräische Sklavin kaufen. Wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt ein weiteres Mal heiraten, durften sie die ehelichen Rechte (Nahrung, Kleidung, ehelichen Verkehr) der ersten nicht vernachlässigen. Wenn sie es doch taten, war die erste Frau frei, die Ehe zu verlassen. Was für eine Sklavin galt, musste erst recht für eine freie Frau gelten. In der allgemein anerkannten jüdischen Auslegung seien deshalb auf Grundlage von 2Mo 21,10f sowohl materielle Vernachlässigung, als auch emotionale Vernachlässigung als mögliche Gründe für eine Scheidung angesehen worden.

Dem Schweigen Jesu über dieses Thema entnimmt Instone-Brewer, dass Jesus der gängigen jüdischen Auslegung von 2Mo 21,10f folgte und Scheidung bei dauerhafter emotionaler oder materieller Vernachlässigung demnach legitim sei. Wenn Jesus nun mit den Pharisäern über 5Mo 24,1-4 debattiere, so ginge es nur um die Auslegung der genannten Verse und darum, eine Scheidunge aus belanglosen Gründen auszuschließen. Auch Paulus vertrat laut Instone-Brewer diese Überzeugung, wenn er auf die emotionalen (1Kor 7,3-5) und materiellen (1Kor 7,32-34) Verpflichtungen der Ehepartner hinweise.

Auch wenn angenommen wird, dass Paulus in 1Kor 7 auf die Pflichten aus 2Mo 21,10f angespielt hat, darf jedoch nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass er deren Vernachlässigung als legitime Scheidungsgründe ansah. Weiterhin wäre zu fragen, ob auch weitere im rabbinischen Judentum anerkannte Scheidungsgründe, wie Unfruchtbarkeit, aufgrund von Jesu Schweigen darüber vorausgesetzt werden können. Instone-Brewer schließt das aus, weil Fortpflanzung im Judentum zwar als Gebot angesehen wurde, Jesus aber die Möglichkeit zur Ehelosigkeit einführe (Mt 19,11f). Jesus spricht in diesen Versen allerdings nicht über die Unfähigkeit, Kinder zu zeugen. Jesus spricht darüber, dass einige, um des Reiches Gottes Willen, den Weg der Ehelosigkeit wählen würden. In jedem Fall ist es schwierig aus dem Schweigen heraus zu argumentieren (Argumentum ex silentio). Ich tue mich schwer damit, den Argumenten von Instone-Brewer zu folgen.

Barbara Roberts: Not under Bondage

In ihrem Buch Not under Bondage argumentiert Barbara Roberts, dass Paulus Scheidung und Wiederheirat aufgrund häuslicher Gewalt in 1Kor 7,10-16 erlaube.

Die „Einwilligung“ (gr. suneudokeo) des ungläubigen Mannes in V.13 bei der gläubigen Frau zu bleiben sei weitreichender, als der bloße Wunsch verheiratet zu bleiben. „Willing to live with must mean ‚pleased to live as a spouse ought to live‘ – showing good will towards the marriage.“ (S. 40). Hinter V.15 sieht Roberts ein Prinzip, das auf andere Fälle übertragen werden könne. Der Gläubige sei in 7,15 vom Ehebund befreit, weil der Ungläubige die Scheidung herbeigeführt habe. Roberts schlussfolgert: „1 Corinthians 7:15 covers all kinds of disciplinary divorce. Adultery, desertion (abandonment) and constructive desertion (abuse, harmful neglect) are all occasions for disciplinary divorce. 1 Corinthians 7:15 also covers treacherous divorce where an unbeliever divorces a believer without good reason.“

Die Bedeutung von „Einwilligen“ (gr. suneudokeo) in V.13 wird hier meiner Erkenntnis nach allerdings überstrapaziert. Weiterhin wird bei Roberts nicht deutlich, warum man den konkreten Fall von V.15 auf alle Ehen übertragen sollte, in denen einer der Ehepartner die Scheidung herbeiführt. Roberts setzt sich besonders für Opfer häuslicher Gewalt ein, was absolut wichtig ist. Solche Fälle sind gravierend und räumliche Trennung ist dringend angeraten. Roberts kann aber aus meiner Sicht nicht überzeugend darlegen, warum eine Wiederheirat durch 1Kor 7,10-16 abgedeckt sein sollte.

Wayne Grudem

In seinem 2018 erschienenen Buch Christian Ethics vertrat Wayne Grudem noch die Position, es gebe lediglich zwei legitimen Gründe für Ehescheidung und Wiederheirat: Ehebruch und Verlassen. Durch seine intensive Auseinandersetzung mit 1Kor 7,15 kam er ein Jahr später zu der Überzeugung, dass es weitere legitime Gründe gäbe. Seine Sichtweise legte er 2021 in seinem Buch (bzw. Büchlein, lediglich 112 Seiten) What the Bible says about Divorce and Remarriage dar.

Wenn aber der Ungläubige sich scheidet, so scheide er sich. Der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht gebunden. (1Kor 7,15)

Grudem hatte (computergestützt) alle bekannten Vorkommen der Phrase „In solchen Fällen“ (gr. en this toioutois) untersucht. Diese Phrase kommt nur einmal in der Bibel vor, aber eben etliche Male in der außerbiblischen altgriechischen Literatur. Sein Fazit: „In solchen Fällen“ bezieht sich grundsätzlich auf Fälle, die ähnlicher Art sind. Auf 1Kor 7,15 übertragen, geht es Paulus hier nicht nur darum, ein Urteil im konkreten Fall zu sprechen, sondern ein Urteil über Fälle solcher und ähnlicher Art. Es geht Grudem ausdrücklich nicht darum, Scheidung und Wiederheirat in beliebigen Fällen zu legitimieren. Als mögliche Fälle (bei denen jeder einzelne Fall gesondert zu bewerten ist) sieht er aber: (1) Missbrauch, (2) Missbrauch der Kinder, (3) extreme und anhaltende verbale und emotionale Gewalt, (4) glaubwürdige Androhung von ernsthafter physischer Gewalt oder Mord, (5) permanente Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol – in der Regel verbunden mit zerstörerischem Verhalten, (6) permanente Spielsucht – verbunden mit einem massiven anhäufen von Schulden und (7) permanente Abhängigkeit von Pornografie.

Während ich die Argumente von Instone-Brewer und Roberts nicht völlig überzeugend finde, halte ich das Argument von Grudem durchaus für schlüssig.

Schluss

In einem letzten Beitrag (voraussichtlich in einigen Wochen) möchte ich noch einmal alle vier Positionen gegenüberstellen, miteinander vergleichen und bewerten.

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