Theologische Differenzen gibt es, seit es Menschen gibt. Wir begegnen ihnen bereits auf den ersten Seiten der Bibel. Während Adam und Eva in ihrem Irrtum vereint zu sein scheinen (1Mo 3), sind sich Kain und Abel uneins in Bezug auf die richtige Art der Anbetung (1Mo 4) und Noah und seine Zeitgenossen haben ganz unterschiedliche Vorstellungen von Gott und seinen Maßstäben (1Mo 6). Auch bei Christen, die sich darin eins sind, dass die Bibel der absolute Maßstab ist, gibt es unterschiedliche Ansichten. Wie kommt es zu unterschiedlichen Sichtweisen?
Ich las kürzlich das Buch When Doctrine Divides the People of God von Rhyne Putman. Er nennt darin fünf häufige Gründe für Uneinigkeit in Lehrfragen:
- Wir lesen unvollkommen (We Read Imperfectly): Unsere Fähigkeit, die Schrift zu interpretieren, ist begrenzt. Das liegt laut Putman an (1) der Begrenztheit des menschlichen Verstandes, (2) der kulturellen Prägungen und den persönlichen Perspektiven des Lesers, (3) der historischen, kulturellen und sprachlichen Distanz, die zwischen dem biblischen Text und dem gegenwärtigen Leser liegt, (4) am eigenen einzigartigen Vorverständnis, das jeder mitbringt, (5) und an unseren selbstsüchtigen Wünschen und Vorurteilen, die jeder in sich hat und die die Interpretation des Textes beeinflussen kann. Obwohl die Bibel klar ist, sind unsere Interpretationen oft fehlbar (vgl. 2Petr 3,16).
- Wir lesen unterschiedlich (We Read Differently): Es gibt exegetische Unterschiede (unterschiedliche Textvarianten des Grundtexts, größere Bedeutungsfelder biblischer Worte und Unterschiede im Verständnis der Grammatik), sowie noch grundlegende hermeneutische Unterschiede (insbesondere der historische und der literarische Kontext kann unterschiedlich gedeutet werden. All das beeinflusst unser Verständnis enorm.
- Wir schlussfolgern unterschiedlich (We Reason Differently): Der Prozess, wie wir von der Schrift zu theologischen Überzeugungen gelangen, ist subjektiv. Sowohl deduktives als auch induktives Denken kommt an seine Grenzen. Abduktives Denken – eine Mischung aus Vermutungen und kreativer Hypothesenbildung – ist oft notwendig, führt aber nicht zu sicheren Schlussfolgerungen.
- Wir empfinden unterschiedlich (We Feel Differently): Emotionen beeinflussen unsere theologische Perspektive stärker, als wir oft zugeben. Emotionale Intuition kommt oft vor rationalem Denken und führt uns beim Argumentieren in eine gewisse Richtung.
- Wir haben unterschiedliche Wahrnehmungsfehler (We Have Different Biases): Sowohl unsere Traditionen als auch unsere Glaubenssysteme prägen unsere Interpretation der Bibel. Insbesondere der Bestätigungsfehler (engl. confirmation bias) führt dazu, dass wir Beweise suchen, die unsere Überzeugungen unterstützen, und widersprechende Beweise ignorieren.
Wir sollten Gotte Wort umso eifriger erforschen und uns umso mehr darum bemühen, unsere Voreingenommenheit abzulegen. Ganz wird das allerdings nie gelingen. Deswegen sollten wir unsere Begrenztheit anzuerkennen und lernen, entspannter mit Differenzen umzugehen, die nicht zentral das Evangelium betreffen.
Lese-Empfehlung (Affiliate Link)
