Am vergangenen Mittwoch haben Bundestag und Bundesrat das neue Infektionsschutzgesetz beschlossen. Den Behörden werden dadurch mehr Möglichkeiten eingeräumt, die Bürgerrechte einzuschränken. Und schon kursieren Petitionen aller Art. Unterschreiben oder nicht?
Ganz sicher sollte die Hürde für die Aussetzung von Bürgerrechten sehr hoch liegen. Ganz sicher muss es auch erlaubt sein, Kritik zu äußern (das ist auch passiert). Was ich allerdings beobachte ist: Evangelikale springen zu schnell auf fahrende Züge auf. Dabei machen sie sich zu selten Gedanken, wer am Steuer sitzt. In der aktuellen Situation häufig Rechtspopulisten.
Warum Evangelikale sich so leicht vereinnahmen lassen
Ich beobachte zwei Gründe, aus denen sich Evangelikale so leicht vereinnahmen lassen.
- Es passt ins Weltbild: Das Bild vom kommenden Antichristen sitzt bei vielen Evangelikalen im Hinterkopf. Tatsächlich bin ich auch davon überzeugt, dass es eines Tages so kommen wird. Der Mensch der Gesetzlosigkeit (2Thes 2) wird offenbar werden und die Herrschaft an sich reißen. Aber wann das sein wird, das dürfen wir getrost offen lassen (siehe auch hier). Schon zu viele vor uns haben aufs falsche Pferd gesetzt.
- Mangelnde Auseinandersetzung mit der Gegenpartei: Kaum jemand, der sich zu Wort meldet, hat das Infektionsschutzgesetz gelesen, geschweige denn sich mit den Argumenten der Gegenpartei beschäftigt (Spr 18,17). Warum wittern wir so schnell eine Verschwörung und gehen so selten von guten Absichten aus?
Video-Empfehlung: Grundrechte in Gefahr? Fragen und Antworten zum Dritten Infektionsschutzgesetz
Letzte Woche hat sich Uwe Heimowski (Politikbeauftragter der Evangelischen Allianz) mit Frank Heinrich (Mitglied des Deutschen Bundestags) über das Thema unterhalten. Ich empfehle das Video ausdrücklich. Selbstverständlich kann man am Ende eine andere Meinung haben. Aber man hat einmal die Argumente der Befürworter des Gesetzes gehört. Das sind wir einander schuldig.
Dieser Beitrag regt mich zu einer Reaktion an. Die politischen Diskussionen in meinem Land (Schweiz) sind ähnlich, wenn auch nicht identisch. Ich bin Christ, Theologe und Unternehmer und verfolge die Fragen aktiv.
Ich meine, dass die zugrundeliegende Frage anders gestellt werden muss: Steht der Souverän (das Volk) hinter dem, was die gewählten Volksvertreter entscheiden? Ist der Protest ein Zeichen, dass wir neben der Corona- auch eine Demokratie-Krise haben? Politische Entscheide mit so weitreichenden Konsequenzen bedürfen einer gesunden und echten Mehrheit in einer Demokratie. Wer bezahlt die Milliarden an Kosten, die gerade täglich angehäuft werden? Wer trägt die Verantwortung für die Folgen des Lockdowns, die noch unklar sind. Hierbei geht es nicht nur um persönliche Ängste, sondern um Verantwortung. Ich halte es für Bürgerpflicht, politische Entscheide mitzutragen – und wo ich begründet nicht einverstanden bin, auch ein Veto einzulegen. Die beiden Pauschal-Vorwürfe im Beitrag scheinen mir diesbezüglich nicht wirklich relevant. Es kann sein, dass sie für einige Menschen zutreffen. Doch für mich gibt es triftigere Beweggründe, vermehrt politisch aktiv zu sein – bewusst als Christ, dem das Gemeinwohl wichtig ist.
Merci für die Anregung durch den Blog und mit einem Gruss aus der Schweiz.
Herzlichen Dank für deinen Beitrag, Samuel. Ich freue mich immer über Reaktionen. Zwei Punkte dazu.
Die Situation in der Schweiz ist etwas anders als die in Deutschland. In der Schweiz gibt es ja mehr direkte Demokratie, also mehr Volksentscheide. So ist es ja in eurem Fall normal, dass das Volk mehr direktes Mitspracherecht hat. In Deutschland bestimmen nun mal gewählte Repräsentanten. Ich bin nicht sicher, wie sich das auf Beschlüsse im Zuge von Corona auswirkt.
Obwohl die Entscheidungen in Deutschland von gewählten Repräsentanten auswirkt, ist es völlig in Ordnung (sogar gewünscht!), wenn Bürger ihre Meinung kundtun – auch warnen, wenn sie das Gefühl haben, dass sich die Dinge in eine ungute Richtung entwickeln. Ich wollte mit meinem Beitrag auf keinen Fall dazu aufrufen, alles passiv abzunicken. Und die beiden “Pauschal-Vorwürfe” würde ich auch nicht auf alle anwenden, die sich in irgendeiner Hinsicht regierungskritisch äußern. Manchmal muss man das als Christ, da bin ich ganz bei dir. Ich sehe nur die Gefahr, dass Evangelikale in vielen Fällen anfällig für Stimmungsmacher sind und zu wenig informiert und reflektiert reagieren. Es gibt ein grundsätzliches Misstrauen Mainstream-Medien gegenüber. Dass die häufig selektiv berichten und auch von ihrer (in der Regel nicht-christlichen) Weltanschauung geprägt sind, ist mir klar. Aber ich wäre zurückhaltend damit, Medien und Regierung von vornherein schlechte Absichten zu unterstellen.