Fehlende Verse in Bibelübersetzungen – Wie man als Prediger damit umgehen sollte

Als Gemeinde befinden wir uns in einer Predigtreihe über die Zeichen des Messias im Johannesevangelium. Am kommenden Sonntag werde ich über Joh 5,1-15 predigen. In den meisten gängigen Übersetzungen ist V.4 (bzw. V.3b-4) nicht enthalten. Es findet sich lediglich ein Hinweis in der Fußnote, dass der Vers nur in späteren Handschriften enthalten sei. Die Schlachter 2000 enthält den Vers dagegen. Wie geht man als Prediger damit um?

Drei (schlechte) Gründe, warum Predigten auf Textunterschiede nicht eingegehen

  1. Es ist möglich, dass ein Prediger auf den Unterschied nicht eingeht, weil er ihn gar nicht bemerkt hat. Er hat für seine Predigtvorbereitung nur eine einzige Bibelübersetzung verwendet. Wir sollten allerdings erwarten, dass ein Prediger sich gut auf eine Predigt vorbereitet und unterschiedliche Bibelübersetzungen verwendet.
  2. Möglicherweise spricht er nicht darüber, weil er selbst selbst unsicher ist, wie er damit umgehen soll. Ein Prediger muss kein Experte in Sachen Textkritik sein. Wenn Fragen in der Predigtvorbereitung auftauchen, auf die er keine Antwort hat, sollte er aber nach Antworten suchen und ggf. auch den ein oder anderen Bibelkommentar konsultieren.
  3. Es ist ebenfalls möglich, dass er nicht darüber spricht, weil er seine Gemeinde nicht verunsichern will. Er könnte befürchten, die Zuhörer würden die Vertrauenswürdigkeit der Bibel in Frage stellen. Die Motivation an sich ist gut. Aber sie ist meiner Ansicht nach fehlgeleitet. Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel hängt nicht von der Textgrundlage einzelner umstrittener Bibelverse ab. So oder so wird jeder Bibelleser einen Weg finden müssen, mit textkritischen Fußnoten umzugehen. Die Frage ist nur: lasse ich ihn damit alleine oder helfe ich ihm durch meine Predigt dabei?

Drei (gute) Grundsätze für den Umgang mit Textunterschieden

  1. Betone den Unterschied zwischen Textkritik und Bibelkritik: Die Bibelkritik betrachtet die biblischen Bücher lediglich als historische Dokumente (nicht als göttliche Offenbarung). Als solche werden sie kritisch untersucht. Die Textkritik beschäftigt sich dagegen mit der Frage nach dem ursprünglichen Bibeltext. Da die ursprünglichen Dokumente nicht mehr verfügbar sind und es Unterschiede in den überlieferten Texten gibt, eine unumgängliche Aufgabe. Fundamentals of New Testament Textual Criticism von Stanley Porter und Andrew Pitts ist eine gute Einführung in das Thema.
  2. Stärke das Vertrauen in die Bibel: Für viele Bibelverse gibt es unterschiedliche Lesarten in den überlieferten Texten. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass der Bibeltext insgesamt hervorragend überliefert wurde und zum ganz großen Teil eindeutig identifizierbar ist. Keine wesentliche Lehre ist von der Entscheidung für eine bestimmte Lesart abhängig und die meisten Differenzen der Lesarten sind minimal. Christen können ihren Bibelübersetzungen vertrauen. Wer sich weiter informieren will, dem empfehle ich das Ehrman Project, besonders die Videos von Daniel Wallace.
  3. Verhilf zu einem gesunden Umgang mit Textunterschieden: In evangelikalen Kreisen gibt es teilweise Grabenkämpfe darum, welche die beste Bibelübersetzung ist und welcher Grundtext der beste sei (Nestle Aland, Mehrheitstext oder Textus Receptus). Das ist völlig unangebracht. Da die Unterschiede minimal sind, sollten wir gelassen damit umgehen. Trotzdem ist es legitim oder sogar sinnvoll, sich seine eigene Meinung darüber zu bilden. Die kann dann auch dazu führen, dass man sich bewusst für eine bestimmte Bibelübersetzung entscheidet. Wer hier mehr wissen möchte, dem empfehle ich Näher am Original? von Karl-Heinz Vanheiden.

Was nun mit Joh 5,4?

Persönlich bin ich der Überzeugung, dass Joh 5,4 im Original nicht enthalten war. Da die Verszählung erst im Mittelalter eingeführt wurde, ist es kein Problem, dass es dann einen Sprung von 5,3 auf 5,5 gibt. Bruce Metzgers A Textual Commentary on the Greek New Testament nennt 4 Gründe, die gegen 5,4 im Original sprechen: (1) der Vers ist in den frühsten und besten Überlieferungen nicht enthalten. (2) In mehr als 20 Textzeugen, die den Vers enthalten, ist er mit einer Markierung versehen, die auf eine Unklarheit hindeutet. (3) Es sind zahlreiche Wörter in dem Vers enthalten, die Johannes in seinen Schriften sonst nirgends benutzt. (4) Es gibt etliche Textvarianten, die darauf hinweisen, dass bei der Textüberlieferung etwas nicht stimmt. Ganz zu schweigen davon, dass 5,4 auch theologisch schwer zu erklären wäre. Es wird sich eher um eine nachträgliche Hinzufügung handeln, die V.7 erklären sollte. Die Erstlesern von Johannes mögen mit dem magischen Denken im Hintergrund vertraut gewesen sein. Spätere Leser dann nicht mehr, deshalb wurde V.4 vermutlich hinzugefügt.

Ein Nachwort

Wer textkritische Beobachtungen in einer Predigt ins Zentrum stellt, ist auf dem falschen Weg. Eine Predigt ist kein theologisches Seminar. Dem Unterschied in den Bibelübersetzungen sollte nicht mehr Gewicht als nötig beigemessen werden. Trotzdem halte ich es für wichtig, auch schwierige Themen in Predigten anzusprechen. Eine gute Predigt sollte dem Zuhörer auch dabei helfen, seine Bibel besser lesen zu können.

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