Warum ist es eigentlich so wichtig, einen Bibeltext gründlich zu studieren, bevor man über ihn predigt? Jeder hat wohl schon Predigten miterlebt, die einen Text extrem frei interpretiert haben (um es positiv zu formulieren) und die trotzdem das Herz der Zuhörer erreicht haben. Warum also die ganze Mühe?
Am kommenden Wochenende halte ich im Rahmen des Training für Mitarbeiter ein Hermeneutik-Seminar in Salzburg. Bei der Hermeneutik geht es um die Grundlagen der Bibelauslegung. In der Vorbereitung wurde ich auf einen Abschnitt von Augustinus aufmerksam. Dieser schrieb vor über 1500 Jahren in seinem Werk Über die Christliche Lehre über die Notwendigkeit eines gründlichen Bibelstudiums.1 Augustinus stellt darin anschaulich dar, warum es so wichtig ist, einen Bibeltext gründlich zu studieren.
Das Argument von Augustinus
Das tiefste Ziel der Bibel ist für Augustinus, Liebe zu Gott und Menschen zu wecken. Wer dies nicht im Blick hat, kann laut Augustinus erst gar nicht davon sprechen, einen Bibeltext verstanden zu haben. Augustinus führt aus:
Wer aber aus der Heiligen Schrift eine solche Ansicht zieht, die zur Auferbauung dieser Liebe dient, der ist weder in verderblicher Täuschung noch überhaupt in Lüge befangen, auch wenn er etwas anderes sagt, als der Schriftsteller, den er liest, an dieser Stelle nachweisbar gedacht hat.
Jetzt könnte man natürlich auf die Idee kommen, die Absicht des Autors sei unwesentlich, wenn man nur die richtige Absicht verfolge. Dem widerspricht Augustinus deutlich:
Jedermann, der in den Heiligen Schriften einen andern Sinn findet, als die Verfasser beabsichtigt haben, der befindet sich in einem Irrtum, ohne daß deshalb die Verfasser lügen.
Ein Bibelleser befindet sich im Irrtum, wenn er etwas in einen Text hineinliest, was der biblische Autor so nicht gemeint hat. Warum ist das so tragisch? Das zeigt Augustinus anhand einer schönen Veranschaulichung:
Besteht, wie gesagt, seine Täuschung in der Annahme eines Sinnes, der immerhin die Liebe, das Ziel des Gesetzes auferbaut, so befindet er sich zwar im Irrtum, aber so wie ein Wanderer, der vom Wege abweicht, aber über das Feld eben dahin geht, wohin auch jener Weg führt. Man soll ihn jedoch auf den rechten Weg weisen und ihm zeigen, daß es viel besser sei, den Weg hier nicht zu verlassen, weil er sonst schließlich doch in eine ganz verkehrte Richtung geraten würde.
Es kann durchaus sein, dass der Wanderer auch auf Umwegen ans Ziel kommt, aber die Gefahr das Ziel zu verfehlen, ist real. Die Übertragung auf den Bibelleser ist jetzt nicht mehr schwer:
Da er nämlich kurzerhand einen Sinn aufstellt, den der Verfasser nicht beabsichtigt, so stößt er meistens auf etwas anderes, was er mit seiner Behauptung nicht in Einklang bringen kann. Wenn er nun merkt, daß dieses wahr und unumstößlich ist, so kann doch wohl der Sinn, den er selbst herausgefunden hat, nicht wahr sein, und er wird merkwürdigerweise so umgestimmt, daß er aus Vorliebe für seine eigene Ansicht der Heiligen Schrift ungünstiger als sich selbst zu werden beginnt. Läßt er dieses Übel langsam einschleichen, so wird er davon zugrunde gerichtet werden.
Der Weg zum Ziel
Die Bibel will Liebe zu Gott und zu Menschen wecken. Das sollte auch das Ziel jeder Predigt sein. Der Prediger sollte die Zuhörer aber auf dem richtigen Weg dorthin führen. Dafür ist ein gründliches Bibelstudium unerlässlich. Die Warnung von Augustinus sollten wir ernst nehmen.
- Die folgende auszugsweise Wiedergabe des Textes in der deutschen Übersetzung stammt von: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel5464-30.htm. ↩