Im Sommer 2022 habe ich drei Beiträge zum Thema Scheidung und Wiederheirat veröffentlicht und darin unterschiedliche Positionen vorgestellt. (1) Ein Überblick, (2) Wiederheirat ist grundsätzlich nicht erlaubt, (3) Scheidung und Wiederheirat bei Ehebruch. Dies zwei Positionen sind allerdings nicht die Einzigen. Von Anfang an hatte ich im Sinn, noch weitere Positionen vorzustellen. Dazu bin ich dann aber nicht mehr gekommen. Das möchte ich jetzt nachholen.
In diesem Beitrag stelle ich die Position vor, die eine Wiederheirat (zusätzlich zum Fall des Ehebruchs) auch im Fall des Verlassens durch einen ungläubigen Ehepartner erlaubt.
Grundsätzliches zur Scheidung und Wiederheirat (1Kor 7,1-11)
In 1Kor 7 geht Paulus auf ein Thema ein, das die Korinther zuvor in ihrem Brief aufgeworfen hatten. Es dabei um das Verhalten von Männern und Frauen in Ehe und Ehelosigkeit. In den V. 1–9 regt Paulus an, über die Möglichkeit der Ehelosigkeit nachzudenken und schreibt zugleich über die ehelichen Pflichten von Verheirateten. In V.10-11 greift er dann die Position Jesu in Bezug auf Ehescheidung auf (7,10a: „Den Verheirateten aber gebiete nicht ich, sondern der Herr …“). Hier geht es um das grundsätzliche Gebot zur Treue und das Verbot der Wiederheirat nach einer Scheidung.
Eine weitere Ausnahme? (1Kor 7,12-15)
In den V.12-15 schreibt Paulus über eine Situation, über die Jesus nichts ausgesagt hatte (7,12a: „Den übrigen aber sage ich, nicht der Herr …“). Wenn eine Person den christlichen Glauben annimmt und ihr ungläubiger Ehepartner sich weiterhin zur Ehe bekennt, soll der Gläubige sich nicht scheiden lassen. „Wenn aber der Ungläubige sich scheidet, so scheide er sich. Der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht gebunden [gr. δουλόω].“ (7,15a).
Was bedeutet „nicht gebunden“? (1Kor 7,39)
In 7,39 spricht Paulus ebenfalls vom Gebundensein und meint dort die Verpflichtung zur Einhaltung des Ehebundes. Wenn er in 7,15a an die gleiche Sache denkt, würde er über die Ausnahmeklausel bei Jesus eine weitere Ausnahme definieren. Wenn der ungläubige Ehepartner einen Christen aufgrund dessen Glaubens verlässt, ist diesem eine Wiederheirat dann möglich. Er ist nicht mehr (durch den Ehebund an den Partner) gebunden. Von einigen wird dagegen gehalten, dass Paulus in 7,39 ein anderes griechisches Verb verwendet (δέω). Beide Worte können allerdings synonym verwendet werden.
Nach römischem Recht musste das Einverständnis des Ehepartners für eine Scheidung nicht eingeholt werden und es war auch keinerlei formelle Vorgehensweise erforderlich. Eine Scheidung wurde dann wirksam, wenn einer der Ehepartner sich nicht mehr als verheiratet betrachtete. Wenn Paulus davon sprach, dass der gläubige Ehepartner nicht gebunden sei, dann ist es demnach schwierig anzunehmen, Paulus nehme ihm lediglich die Verpflichtung, an der Ehe fest zuhalten. Der gläubige Ehepartner hatte nämlich gar keine andere Wahl, als den anderen ziehen zu lassen. Das nicht-Gebundensein bezieht sich folglich sehr wahrscheinlich auf das nicht-Gebundensein im Ehebund und bringt demnach die Möglichkeit zur Wiederheirat mit sich. 1Kor 7,15 scheint tatsächlich eine weitere Ausnahme darzustellen. Wenn der ungläubige Partner den Gläubigen aufgrund dessen Glaubens verlässt, ist der Gläubige frei, wieder zu heiraten.
Was die Kommentare sagen
Die deutliche Mehrheit der evangelikalen exegetischen Bibelkommentare teilt die Sichtweise, dass 1Kor 7 über die Ausnahmeklausel bei Matthäus hinaus einen weiteren legitimen Grund für Scheidung und Wiederheirat enthält. Hier sind primär Ciampa und Rosner (PNTC), Gardner (ZECNT), Schreiner, (TNTC) und Naselli (ESVEC) zu nennen (Auszüge siehe unten). Das ist im übrigen auch die Position, die MacArthur in seinem Kommentar vertritt. Es gibt allerdings auch andere Stimmen. Die Gegenposition wird insbesondere von Fee (NICNT) vertreten, der überzeugt ist, 1Kor 7,15 gebe diese Auslegung nicht her. Schnabel (HTA) folgt ihm dabei. Zu beachten ist dabei, dass Fee sich nicht gegen eine mögliche Wiederheirat einer Scheidung ausspricht, sondern lediglich meint, dass das nicht von diesem Vers abgeleitet werden könne.
Weitere Ausnahmen möglich?
Die Ausnahmeklausel bei Matthäus (Mt 5,31f und 19,9) sowie die hier behandelte Passage bei Paulus sind sicher die wichtigsten Stellen für die Frage nach der Legitimität von Scheidung und Wiederheirat. Wenn man die Position vertritt, dass hier legitime Gründe vorliegen, ist allerdings auch die Frage zu stellen, ob es weitere legitime Gründe geben könnte. Auf diese Frage werde ich in einem Folge-Beitrag eingehen.
Auszüge aus Kommentaren
Not bound here refers to freedom to remarry. […] Paul says that in such circumstances (namely, that of being abandoned, not merely that of being married to an unbeliever) a Christian spouse is not bound. That is, spouses are not stuck in the slavery of a no-man’s-land where they have no spouse (because they have been abandoned) and yet are not able to remarry (because they remain married). They are free.
Roy E. Ciampa und Brian S. Rosner
The text of 7:15 is notable because it breaks away from this general argument that divorce should not be an option and that the ongoing consequence of marriage means the partner should not normally remarry. In the situation of v. 15, there was nothing that a Christian partner could have done anyway to maintain the marriage since the unbelieving spouse has separated him or herself. […] It is our view that this sad situation of an unbeliever walking out of a marriage to a Christian and forcing a divorce leaves the man or woman as if their partner was dead and hence, under certain strict conditions, available for remarriage.
Paul Gardner (ZECNT)
Does Paul also imply freedom to remarry? Commentators disagree. Some think the answer is ‘no’ since the Corinthians in this chapter were interested in refraining from marriage instead of finding a way to get married. Furthermore, they think the Jesus tradition forbids remarriage. Certainty is impossible, but Paul probably thinks remarriage is permissible in such instances. First, according to Jewish and Graeco-Roman tradition, divorce implies freedom to remarry, and Paul would need to make it quite clear if he dissented from the tradition. Second, I suggested in the interpretation of 7:10–11 that Jesus permitted remarriage in the case of sexual infidelity. Third, even though some Corinthians were interested in asceticism, we can scarcely say that all of them were ascetics, and, in any case, Paul, as a wise servant of Christ, knew human nature. He would recognize that some would desire to remarry. Fourth, the word bound (douloō) used here and ‘bound’ (deō) in 7:39 belong to the same semantic range and are thus roughly synonymous. Hence Paul thinks married women are bound (dedetai) while a husband lives (Rom. 7:2; 1 Cor. 7:39), but they are ‘free’ (eleuthera, ESV, Rom. 7:3; 1 Cor. 7:39) when a husband dies. So too here, a person is bound to the marriage until the unbelieving spouse chooses to initiate a divorce.
Thomas Schreiner (TNTC)
There are two main views on what Paul means by “not enslaved” in verse 15: (1) the Christian is free to divorce but not to remarry (i.e., vv. 10–11 apply to this situation); and (2) the Christian is free to divorce and remarry. […] The second view is far more likely, for two reasons: (1) “Not enslaved” conceptually parallels “bound” and “free to be married” in verse 39. (2) Neither the ancient Greco-Roman world nor the Jewish world had a category for a lawful divorce that excluded remarriage. Consequently, physically deserting one’s spouse is a ground for divorce because it breaks the marriage covenant to leave and cleave and to become one flesh (Gen. 2:24). After divorcing with biblical warrant, a person is free to remarry.
Andrew David Naselli (ESVEC)
„G. Fee argumentiert mit Nachdruck für die erste Interpretation: 1. In einem Kontext, in dem korinthische Christen für das Recht votieren, bestehende Ehen aufzulösen, ist die Annahme nicht plausibel, Paulus würde eine Wiederheirat geschiedener Christen in einer kurzen Nebenbemerkung ansprechen. 2. In V. 11 untersagt Paulus ausdrücklich eine Wiederheirat in einem Fall, der ebenfalls eine Ausnahme darstellt. 3. Die Grundtendenz des Kapitels betont, keine Veränderung des gesellschaftlichen Status zu suchen, in dem man sich befindet; die Ausnahmen, die Paulus formuliert, erlauben keinen Wechsel des Partners, sondern des Status, d.h. von ledig zu verheiratet oder umgekehrt, aber nicht beides gleichzeitig. Dem Argument, dass Paulus angesichts der zeitgenössischen Praxis der Wiederheirat, die in Ehe- und Scheidungsurkunden explizit erlaubt wird, ein Verbot der Wiederheirat konkret hätte aussprechen müssen, ist mit dem Hinweis zu begegnen, dass Paulus in 7,1–16 gerade nicht mit den Konventionen der griechisch-römischen und jüdischen Ehe- und Scheidungspraxis argumentiert, sondern mit dem Scheidungsverbot eine Direktive formuliert, die dieser konträr ist.
Eckhard J. Schnabel (HTA)
Anmerkung: Die oben angegebenen Links sind Affiliate-Links. Wenn die verknüpften Bücher oder andere Produkte über diesen Link kauft werden, bekomme ich eine kleine Provision. Euch entstehen dadurch keine Mehrkosten, aber ihr unterstütz damit die Arbeit für diesen Blog.