Der Untergang des Dispensationalismus?

Ist der Dispensationalismus am Ende? Drei aktuelle Bücher gehen dieser Frage nach – mit überraschend unterschiedlichen Antworten. Einblicke, Bewertungen und persönliche Leseempfehlungen.

In den letzten Monaten habe ich drei Bücher zum Dispensationalismus gelesen, die auf sehr unterschiedliche Weise den Zustand und die Zukunft dieser theologischen Richtung bewerten. Ist der Dispensationalismus tatsächlich auf dem Rückzug – oder nur in einer Phase der Neubesinnung? Die Antworten fallen überraschend vielfältig aus. Hier eine kurze Vorstellung der Werke – samt ein paar persönlichen Anmerkungen.

Discovering Dispensationalism

Häufig wird argumentiert, der Dispensationalismus sei erst von John Nelson Darby erfunden worden. Der Sammelband Discovering Dispensationalism (#Affiliate-Link) von Cory Marsh und James Fazio (Hg.) antwortet eindeutig: nein. Bereits Kirchenväter wie Papias, Justin, Irenäus & Co. lesen ein buchstäbliches messianisches Reich aus der Schrift heraus; mittelalterliche Denker wie Joachim von Fiore arbeiten mit heilsgeschichtlichen Perioden; Puritaner koppeln eine israelfreundliche Endzeit­erwartung an ihre wortgetreue Exegese. Darby bündelt diese verstreuten Fäden später zu einem System.

Herzstück des Buches ist die Definition der „Dispensation“ als göttliche Haushaltung: Gott setzt einen Verwalter ein, der treu mit anvertrauten Ressourcen umgehen soll. Über die Anzahl der „Dispensationen“ gibt es freilich unterschiedliche Meinungen. Dass zwischen unterschiedlichen Epochen der Heilsgeschichte unterschieden werden muss, darüber herrscht nicht nur bei Dispensationalisten Einigkeit.

Gründliche Quellenarbeit, scharfe Begriffs­klärung – und der klare Befund: Der Dispensationalismus ist tief in der Geschichte verwurzelt und zugleich offen für die Zukunft, auch wenn er sich theologisch neu ausrichten muss. Wer einen kompakten Einstieg sucht, findet hier reichlich Argumente für die bleibende Relevanz dieser Denkrichtung – und ein paar nötige Warnschilder gleich mitgeliefert.

The Rise and Fall of Dispensationalism

Daniel G. Hummel schildert in seinem Buch „The Rise and Fall of Dispensationalism“ (#Affiliate-Link) den Aufstieg und den vermeintlichen Kollaps des Dispensationalismus – genauer des „neuen Prämillennialismus“, einer Bewegung, die ab 1830 eine buchstäblich-prophetische Bibellektüre mit Betonung der Naherwartung Jesu verband. Sein Fokus sind die USA.

  1. Phase 1 – Aufbruch (1830–1900): Der Impuls kommt von Darby; Prediger wie Brooks, Seiss, Grant, Moody verbreiten ihn.
  2. Phase 2 – Systematisierung (1900–1960): Insbesondere Scofield, Chafer und das Dallas Theological Seminary (sowie weitere theologische Seminare) prägen stark.
  3. Phase 3 – Pop-Dispensationalismus (1960–2020): Bestseller von Hal Lindsey, Tim LaHaye u. a. prägen Kultur und Politik, die theologische Tiefe verblasst; hier verortet Hummel den „Fall“.

Hummels Diagnose vom Niedergang überzeugt mich nur teilweise. Er rechnet u. a. den progressiven Dispensationalismus nicht mehr dazu – obwohl die Bewegung in 200 Jahren stets intern variierte (Verständnis von Heiligung, Zahl der Heilszeiten, Details der Hermeneutik…). Dass der Einfluss des Dispensationalismus innerhalb des Evangelikalismus heute geringer ist als noch vor einigen Jahrzehnten, stimmt natürlich; von einem Ende zu sprechen greift jedoch zu kurz.

Fazit: Hummel bietet einen klar strukturierten historischen Überblick und liefert berechtigte Kritik am pop­kulturellen Ausverkauf. Wer jedoch die Gegenwart des Dispensationalismus verstehen will, sollte ergänzend zu Werken wie Three Central Issues in Contemporary Dispensationalism (#Affiliate-Link) (auch schon 25 Jahre alt, aber ein guter Überblick über Varianten innerhalb des Dispensationalismus) greifen. Ich empfehle auch die Podcast-Diskussion mit Hummel, Paul Weaver und Darrell Bock (Dispensationalism and Evangelicals).

Hinweis: Vor einigen Jahren habe ich außerdem das Büchlein Dispensationalismus – Fakten und Mythen von Michael Vlach vorgestellt. Das eignet sich hervorragend als Einstieg ins Thema

After Dispensationalism

In After Dispensationalism (#Affiliate-Link) beschreibt Brian Irwin die „Welt der Endzeit-Lehre“, womit er den Dispensationalismus meint. Der erste Teil bietet eine geschichtliche Einführung, bleibt dabei aber eher oberflächlich. In den beiden folgenden Teilen widmet sich Irwin der prophetischen und apokalyptischen Literatur im Allgemeinen sowie den Büchern Hesekiel, Daniel und Offenbarung im Besonderen. Etwas irritierend ist, dass die einzelnen Buchteile und Kapitel sehr unterschiedlich umfangreich ausfallen, was den Lesefluss etwas erschwert. Dennoch steckt viel Hilfreiches im Buch.

Irwins zentrale Kritik am Dispensationalismus ist, dass dieser die genannten Texte zu sehr als abstrakte Zukunftsbeschreibungen liest und dabei den ursprünglichen geschichtlichen und theologischen Kontext vernachlässigt. Prophetie sei häufig keine losgelöste Zukunftsschau, sondern eine direkte Bezugnahme auf die Segen- und Fluch-Passagen der Mose-Bücher. Entsprechend müssten diese Texte auch primär im Rahmen des Bundesdenkens verstanden werden. Die angekündigten Ereignisse lägen dabei meist nicht in ferner Zukunft, sondern seien unmittelbar zu beobachten oder zu erwarten. Als Evangelikaler schließt Irwin natürlich nicht aus, dass es noch ausstehende Erfüllungen biblischer Prophetie gibt, doch gerade Verheißungen an Israel seien in der Regel zeitnah erfüllt worden. Besonders in der apokalyptischen Textgattung werde zudem stark bildhaft gesprochen. Man solle deshalb nicht in heutigen Nachrichten nach Erfüllungen suchen, sondern den literarischen Kontext beachten und innerhalb der Schrift nach den passenden Bezügen forschen.

Ich habe die Lektüre als anregend empfunden und vieles daraus mitgenommen. Kritisch sehe ich, dass Irwin eine Spätdatierung des Danielbuchs vertritt und den historischen Daniel damit als Autor ausschließt – ein direkter Rückschluss aus seinem Verständnis apokalyptischer Literatur, die häufig pseudepigraphischer Natur ist. Auch halte ich seine Darstellung des Dispensationalismus für zu einseitig. Seine Kritik trifft sicher auf manche frühere Vertreter zu, wird aber der inneren Vielfalt der Bewegung nicht gerecht. Interessanterweise hebt er selbst das Buch Interpreting Apocalyptic Literature (#Affiliate-Link) positiv hervor, das von einem Professor am Dallas Theological Seminary verfasst wurde – einem Dispensationalisten mit ausgewogenem Verständnis apokalyptischer Texte. Auch wenn der Dispensationalismus im Buch selbst nicht groß zum tragen kommt (siehe Buchbesprechung hier) , schließt dieser einen gesunden Umgang mit apokalyptischer Literatur eben nicht aus. Ich habe mir das Buch bestellt, es aber noch nicht gelesen. Gelesen habe ich jedoch bereits das Pendant zum Neuen Testament Interpreting Revelation and Other Apocalyptic Literature (#Affiliate-Link), ebenfalls von einem (gemäßigten) Dispensationalisten geschrieben – sehr empfehlenswert!

In seiner Schlussfolgerung formuliert Irwin 13 Prinzipien für den Umgang mit prophetischen und apokalyptischen Texten. Nicht alle sind aus meiner Sicht gleich gewichtig, manches wirkt eher selbstverständlich. Doch besonders diese vier Impulse sind aus meiner Sicht insbesondere für Dispensationalisten bedenkenswert:

  1. It is wiser to use the Bible to interpret the news than the news to interpret the Bible; it is wiser to use the Bible to interpret our calendars than the calendar to interpret our Bibles.
  2. Apocalyptic and prophetic texts are different genres that cannot be conflated and ought to be interpreted according to the guidelines unique to their literary types.
  3. When reading Scripture, it is better to begin by asking how Old Testament prophecies and apocalyptic texts were understood by the original recipients than to speculate about how they might be fulfilled in our future.
  4. Understanding some biblical passages symbolically is not to question the reliability, inspiration, or perfection of the Scriptures.

Mein Fazit

Der Einfluss des Dispensationalismus ist zweifellos zurückgegangen, aber von einem echten „Untergang“ kann kaum die Rede sein. Vielmehr ringt die Bewegung heute stärker denn je um ein verantwortungsvolles Schriftverständnis, das zwischen berechtigter Hoffnung, nüchterner Hermeneutik und geistlicher Wachsamkeit balanciert. Wer sich auf diese Auseinandersetzung einlässt, wird – wie ich – wertvolle Impulse mitnehmen, auch wenn nicht jede These überzeugt.

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