In den vergangenen Wochen habe ich zwei Bücher zum Thema Endzeit vorgestellt. Eins aus amillennialistischer Perspektive, eins aus der Perspektive des klassischen Prämillennialismus. Diese Woche möchte ich das Buch Dispensationalismus von Michael Vlach vorstellen. Im Gegensatz zu den zuvor genannten ist es keine systematische Darstellung der Endzeitlehre. Deswegen kann man die Bücher nicht direkt miteinander vergleichen. Stattdessen stellt es den Dispensationalismus als theologisches System vor und ist bewusst kurz gehalten (knapp 200 Seiten bei ziemlich kleinem Format).
Zum Autor
Michael Vlach ist (seit Juli 2021) Professor für Theologie am Shepherds Theological Seminary. Vorher lehrte er 15 Jahre lang am Master’s Seminary. Er ist Autor mehrerer Bücher. Nach Hat die Gemeinde Israel ersetzt? ist dies das zweite Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Im dispensationalistischen Spektrum ordnet er sich selbst zwischen revidiertem und progressiven Dispensationalismus ein.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in 5 Kapitel eingeteilt.
Kap. 1: Geschichte des Dispensationalismus
Hier gibt es einen kurzen Abriss über die Entwicklung des theologischen Systems. Dabei wird der Dispensationalismus als relativ jung (19. Jahrhundert) beschrieben. Es wird aber auch betont, dass er seine Wurzeln im Prämillennialismus der frühen Kirche hat. Weiterhin werden die unterschiedlichen Variationen des Dispensationalismus vorgestellt: der klassische (von Darby bis Chafer), der revidierte (Walvoord, Pentecost und Ryrie, Feinberg, McCain) und der progressive Dispensationalismus (Blaising, Bock, Saucy).
Kap. 2: Grundzüge des Dispensationalismus
Vlach diskutiert unterschiedliche Vorschläge, den Kern des Dispensationalismus zu charakterisieren. Anschließend stellt er sein eigenes Modell vor. Bei allen Variationen in der dispensationalistischen Theologie sind diese sechs Lehren vorhanden: (1) Die primäre Bedeutung jedes biblischen Textabschnitts findet sich im jeweiligen Textabschnitt selbst. (2) Das nationale Israel ist kein untergeordneter Typus, der durch die Gemeinde ersetzt wird. (3) Israel und die Gemeinde sind zu unterscheiden. Die Gemeinde ist nicht das wahre Israel. (4) Die geistliche Einheit von Juden und Heiden ist vereinbar mit einer besonderen Rolle Israels als Nation in der Zukunft. (5) Die Nation Israel wird im Tausendjährigen Reich sowohl errettet als auch wiederhergestellt werden. (6) Die Gemeinde als „Same Abrahams“ hat die Verheißungen Gottes an den gläubigen jüdischen „Samen Abrahams“ nicht unwirksam gemacht.
Kap. 3: Mythen über den Dispensationalismus
Laut Vlach werden häufig Strohmann-Argumente gegen den Dispensationalismus vorgebracht, die gar nicht den Kern des Systems betreffen. Der Kern umfasst für ihn lediglich zwei Bereiche der Theologie: die Ekklesiologie und die Eschatologie. In diesem Abschnitt setzt er sich deshalb mit fünf Mythen auseinander. (1) Der Dispensationalismus lehrt verschiedene Heilswege. (2) Der Dispensationalismus ist grundlegend mit dem Arminianismus verbunden. (3) Der Dispensationalismus ist von Natur aus mit dem Antinomismus verbunden. (4) Der Dispensationalismus führt zur Non-Lordship-Salvation-Lehre. (5) Beim Dispensationalismus geht es primär um die Lehre der sieben Epochen der Heilsgeschichte. Teilweise beruhen die Mythen auf Missverständnissen. Teilweise beruhen sie auch auf Positionen einzelner Vertreter des Dispensationalismus, jedoch nicht auf dem Dispensationalismus selbst.
Kap. 4.: Kontinuität und Diskontinuität im Dispensationalismus
In diesem Kapitel wird der Dispensationalismus als System vorgestellt, das sowohl Diskontinuität (Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen Testament) als auch Kontinuität (Gemeinsamkeiten) beinhaltet.
Kap. 5: Dispensationalismus und Bundestheologie: Die Hauptunterschiede.
Wenn es um das Verständnis der Heilsgeschichte geht, ist die Bundestheologie im evangelikalen Bereich der größte Rivale des Dispensationalismus. Hier beschreibt Vlach die Hauptunterschiede, die für ihn in der Hermeneutik (wörtliche oder vergeistlichte Auslegung) und der Handlungslinie (die Geschichte Gottes mit den Menschen) bestehen.
Darüber hinaus gibt es einen Teil mit Fragen und Antworten, eine Schlussfolgerung und zwei Anhänge.
Was mir gefällt
Der Ton des Buches ist sehr angenehm. Michael Vlach scheut sich nicht, seine eigene Position zu benennen. Dabei ist er allerdings fair gegenüber Vertretern anderer Systeme. Auch die unterschiedlichen Variationen im Dispensationalismus stellt er nebeneinander. Das gefällt mir ausgesprochen gut.
Obwohl das Buch recht dünn und kompakt ist, hat man am Ende doch einen guten Einblick in die Grundlagen des Dispensationalismus bekommen. Vlach formuliert allgemeinverständlich, aber sehr präzise. Vor allem verliert er sich nicht im Detail. Es ist ein super Einstieg, für Christen, die den Dispensationalismus besser kennenlernen wollen – ob sie sich nun innerhalb oder außerhalb des Systems befinden.
Was ich mir gewünscht hätte
Die Kompaktheit des Buches bringt natürlich mit sich, dass viele Themen nur angeschnitten werden können. Das fand ich an einigen Stellen bedauerlich. Das ist aber wohl kein ganz fairer Kritikpunkt. Vlach will ja gerade eine kompakte Einführung geben, und die ist durchaus gelungen. Die kommentierten weiterführenden Ressourcen im Anhang sind sehr hilfreich für alle, die weiterlesen wollen.
Gelegentlich sind die Sätze etwas kompliziert formuliert. Der vierte Grundsatz dispensationalistischer Theologie (s. o.) lautet bei Vlach z. B. ausformuliert: „Die geistliche Heilseinheit von Juden und Heiden ist vereinbar mit einer funktionalen Rolle Israels als Nation in der Zukunft.“ Solche Sätze muss man möglicherweise mehrmals lesen, um zu verstehen, worum es geht. Präzise Formulierungen erfordern so etwas natürlich auch teilweise.
Mein Fazit
Eine hervorragende Einführung in das theologische System des Dispensationalismus. Wer in einer Gemeinde aufgewachsen ist, in der dispensationalistisch gelehrt wird, bekommt einen guten Einblick in das eigene System – auch in die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Wer mit dem Dispensationalismus noch kaum vertraut ist, bekommt ebenfalls einen guten Einblick und erkennt, dass es im Dispensationalismus im Kern um anderes geht als die Vorentrückungslehre oder Ähnliches.