Wer in der Gemeinde Verantwortung trägt, weiß: Wir leben nicht im luftleeren Raum. Menschen bringen ihre Fragen, Sorgen und Werte mit in die Kirche – bewusst oder unbewusst. Deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen, was die Stimmung im Land prägt. Hermann Binkert, Leiter des Meinungsforschungsinstituts INSA, hat dazu ein spannendes Buch vorgelegt: Wie Deutschland tickt. Darin zeigt er, wie Meinungsforschung funktioniert, welche Trends sich abzeichnen und warum Meinungsfreiheit unverzichtbar ist.
Zum Autor
Hermann Binkert (*1964) ist Jurist und bekennender Katholik. Er war viele Jahre politisch in der CDU aktiv, u. a. als Mitglied des Thüringer Landtags (2004–2009) und von 2008 bis 2009 als Staatssekretär in der Thüringer Staatskanzlei. 2009 gründete er in Erfurt das Meinungsforschungsinstitut INSA, das heute zu den bekanntesten Instituten Deutschlands gehört – insbesondere durch die wöchentliche „Sonntagsfrage“. Binkert bringt damit politische Erfahrung, gesellschaftliche Analyse und persönliche Glaubensüberzeugung zusammen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel erklärt Binkert die Methoden der Meinungsforschung und ihre Grenzen. Besonders betont er, dass Meinungsforschung nicht prägen oder manipulieren darf, sondern ausschließlich erfassen soll. Den größten Raum nimmt dabei der Abschnitt „Wie die Deutschen ticken“ ein, in dem über 130 Seiten lang Ergebnisse aus Umfragen zu unterschiedlichsten Themen präsentiert werden. Dort wird deutlich, wie groß die Spannbreite der Meinungen tatsächlich ist – und wie stark sie sich mitunter von dem unterscheiden, was in großen Medien suggeriert wird. So ist beispielsweise der Mehrheit der Deutschen die Gender-Sprache weitgehend gleichgültig, und eine Mehrheit spricht sich inzwischen für den Bau neuer Atomkraftwerke aus.
Das zweite Kapitel widmet sich der Meinungsbildung. Hier beschreibt Binkert, wie Parteien, Medien, organisierte Interessen, Kirchen und Wissenschaft Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Besonders zugespitzt ist seine Beobachtung zu den Kirchen: Sie laufen Gefahr, sich in politischem Aktionismus zu verlieren und damit austauschbar zu werden, statt ihr eigentliches Alleinstellungsmerkmal ins Zentrum zu stellen – nämlich Hoffnung, Zuversicht und Sinn zu vermitteln.
Neben den Kirchen richtet Binkert auch den Blick auf die Medien. Eine Befragung von Journalisten an der TU Dortmund im Jahr 2024 zeigte, dass sich die Mehrheit der Befragten eher dem rot-grünen Spektrum zuordnet. Rund zwei Drittel gaben Sympathien für Grüne, SPD oder Linke an, während nur ein kleiner Teil Nähe zu CDU oder FDP bekundete. Für die AfD fanden sich praktisch keine Anknüpfungspunkte. Damit wird deutlich, dass Journalisten in ihrer Mehrheit politisch eher links der Mitte verortet sind – ein Befund, der für die öffentliche Meinungsbildung durchaus Gewicht hat.
Im dritten Kapitel geht es schließlich um Meinungsfreiheit. Binkert zeigt auf, wie eng sie mit der Menschenwürde verknüpft ist und welche Rolle sie für eine lebendige Demokratie spielt. Zwar sieht er die Meinungsfreiheit in Deutschland im Grundsatz gut geschützt, warnt aber zugleich vor subtilen Formen der Ausgrenzung und Diffamierung. Besonders stark ist sein Appell, unterschiedliche Meinungen nicht nur zu ertragen, sondern aktiv in den Dialog zu treten. Am Ende des Buches steht ein eindringlicher Aufruf zu mehr Mut zum Meinungsstreit.
Eindrücke beim Lesen
Positiv ist mir besonders aufgefallen, wie verständlich Binkert die Grundlagen der Meinungsforschung darstellt. Wer bisher kaum Berührung mit Umfragen hatte, bekommt hier eine solide Einführung. Die Vielzahl an Statistiken und Grafiken macht das Buch anschaulich, und dass Binkert die Ergebnisse meist zurückhaltend kommentiert und Interpretationen bewusst offenlässt, wirkt seriös und lädt zum eigenen Nachdenken ein.
Gleichzeitig fand ich die Gliederung etwas unausgewogen: Dass mehr als die Hälfte des Buches in einem einzigen Abschnitt steckt, macht es unnötig anstrengend zu lesen. Die Vielzahl an Themen hätte sich besser in kleinere Einheiten gliedern lassen. Auch wenn Binkert seine Meinung oft zurückhält, wird sie an manchen Stellen deutlich, etwa wenn er die Politik Angela Merkels als zu profillos kritisiert oder wenig Verständnis für geschlechtergerechte Sprache zeigt.
Fazit
Wie Deutschland tickt ist ein hochinteressantes Buch für alle, die sich dafür interessieren, wie Meinungen entstehen und welche Themen die Menschen in unserem Land wirklich bewegen. Für Mitarbeitende in Gemeinden kann es eine wertvolle Hilfe sein, den gesellschaftlichen Hintergrund besser zu verstehen, in dem wir das Evangelium weitergeben. Denn nur wer weiß, was Menschen prägt, kann ihre Fragen ernst nehmen und das Evangelium verständlich kommunizieren.
Am Ende bleibt Binkerts eindringlicher Appell: Unsere Gesellschaft braucht mehr Mut zum Meinungsstreit. Für Gemeinden bedeutet das ebenso: nicht in einer Blase zu leben, sondern im guten Sinn mitten im Diskurs unserer Zeit zu stehen.
Buchinfos
Titel: Wie Deutschland tickt
Autor: Hermann Binkert
Verlag: Fontis
Erscheinungsdatum: 19. August 2024
Seiten: 256
Preis: 22,00 €
Erhältlich direkt bei Fontis.
Offenlegung
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Fontis Verlag zugesandt bekommen. Meine Einschätzung ist davon nicht beeinflusst.
